SLOW LISTENING

Wir leben in einer Zeit der Häppchen-Kultur und der oberflächlichen Events. Selbst in den Kulturwellen des öffentlich-rechtlichen Radios wird stromlinienförmig und zerhäckselt klassische Musik als Hintergrundtapete geliefert, um 3-Minuten-Beiträge einzubetten. Vermieden wird alles, was Kultur erst ausmacht: genaues Hinhören, unter die Oberfläche gehen, Kunstschöpfungen mit Eigenwert erleben. Hier findet ein paralleler Prozess zur Nahrung statt, auch hier hat standardisiertes und mit Geschmacksverstärkern zugerichtetes Fast Food die Kultur des Essens als bewusstes und kulturelles Erlebnis verdrängt.

Diesen Tendenzen ist auch die Bewegung der Alten Musik und der historischen Aufführungspraxis nicht entgangen. Vielfach wird Musik vor 1600 als Meditationsmusik in schönen Räumen gespielt, losgelöst von ihrem intellektuellen, emotionalen und geschichtlichen Hintergrund. Jahrhunderte, in denen sich stärkste Entwicklungen der Musik abspielten, gerinnen zu einem einzigen Wohlfühl-Klang. Notre-Dame-Organa des 13. Jahrhunderts oder Ockeghem-Messen des 15. Jahrhundert scheinen sich nicht zu unterscheiden. Hat sich etwa in der Architektur zwischen der Gotik Notre-Dames und den Florentiner Renaissancebauten des 15. Jahrhunderts nichts ereignet? Dabei kann man gerade in der Musik vor 1600 die faszinierendsten Erfahrungen eines ganz neuen Hörens machen. Hören nicht nur vom Bass aus und in der Vertikalen, sondern in einem immer wieder neu bestimmten Verhältnis zwischen Raum und Zeit, zwischen Klangarchitektur der sich verbindenden Stimmen und der horizontalen, zeitlichen Entwicklung der einzelnen Stimmen. Diese Balance hat sich zwischen 1200 und 1600 immer wieder neu definiert. Will man die Unterschiede in dieser Balance wirklich erleben, muss man sich in eine ganz andere Hörhaltung als die heutige begeben. Werke dieser frühen Jahrhunderte haben zudem einen sehr interessanten und komplexen kulturellen Hintergrund, sie waren nicht Kunstwerke in einem Kunsttempel Konzertsaal. Vielmehr waren sie eingebettet in rituelle Handlungen, Alltag, philosophische Spekulation, Straßentheater, höfische Lebensgestaltung. Improvisation spielt eine starke Rolle, das aufgeschriebene Werk war Ausnahme und sicherlich nicht eine „Urtext“-Vorlage ohne die Möglichkeit der Neugestaltung.

Hört man diese Werke nach Art unserer Konzerte hintereinander, ohne Kommentar, ohne Wissen um ihre Hintergründe, vor allem häufig ohne ihre Texte zu verstehen, so hört man vielleicht eine Klanghülle, jedoch nicht ihre faszinierende Vielschichtigkeit.

Slow Listening will diese Einseitigkeit und Oberflächlichkeit durchbrechen durch eine neuartige Konzeption von Konzerten. In einer Dramaturgie der Darbietung und in Verbindung mit künstlerisch gestalteten Texten soll zuerst die Hörhaltung verändert, dann der Zugang erleichtert und schließlich ein intensives Erleben ermöglicht werden.

Um dies zu erreichen gilt es allerdings eine weitere Voraussetzung zu schaffen: das Singen von den originalen Quellen mit ihrer von der heutigen stark unterschiedenen Notation. Die Stimmen waren nicht in Partitur untereinander notiert, sondern jeweils einzeln, so dass ein Sänger einerseits seine eigene Stimme genau in ihrem Verlauf auf einen Blick erkennen konnte, nicht jedoch gleichzeitig sehen konnte, was die anderen Sänger gleichzeitig sangen. Die eigene Stimme ist viel besser zu erkennen, die Notation gibt dem Sänger viele Hinweise, die in moderner Notation nicht so erlebt werden können. Die anderen Stimmen erschließen sich aber vor allem durch das Hören. Dies führt zu einer ganz neuen Art des Singens und Erlebens des einzelnen Sängers im Ensemble. Die Intensität dieser Erfahrung überträgt sich auch auf die Hörer. Kaum eines der heute auf dem Gebiet der Renaissancemusik tätigen bekannten Ensembles tut dies bisher. Das Ensemble Amarcord ist dieses Abenteuer, das natürlich die Aufführungen auch spannender und riskanter macht, eingegangen.

Die Goldberg-Stiftung unterstützt Ensembles, die sich dieser veränderten Aufführungskultur verpflichtet fühlen, natürlich auch für Konzerte außerhalb der geschichtlichen Periode der Renaissance-Musik.

Der Partner der Stiftung, das Ensemble Amarcord , arbeitet an diesen Konzerten, die ersten Konzerte fanden bereits in Quedlinburg, Leipzig und Berlin statt.

Beim ersten Renaissance-Musik Festival in Reutlingen wurde ein zweites Programm rund um Ockeghems Ma Maistresse mit dem Ensemble Peñalosa aufgeführt.

Im März 2010 wurde im Rahmen der MaerzMusik der Berliner Festspiele das dritte, bisher umfangreichste Projekt der Stiftung aufgeführt: Et Ecce Terrae Motus, die 12-stimmige Messe Antoine Brumels, auf einer Reise von den Katastrophen der Gegenwart in das Jahr 1510 und wieder zurück. Weitere Aufführungen fanden in Rennes, Reutlingen und Brügge statt.

2016 wurde unser viertes Projekt, Josquins Unsterblichkeit, in Nürnberg während des ION-Festivals aufgeführt. Geplant sind weitere Aufführugnen in Berlin und Brügge.

Ausschnitt aus dem Slow Listening Konzert in Leipzig, 1. 10. 2006